Russ Tolman ist ein Americana-Singer-Songwriter-Gitarrist, der voller Enthüllungen steckt, voller Widersprüche und Vielfalt. Als Musiker stand er in der ersten Reihe verschiedener Entwicklungen und Bewegungen. Als treibendes Mitglied des Paisley Underground war er Gründer von True West, der ultimativen 80er-Jahre-zwei-Gitarren-Kreissäge. Der Band gelang es nie, ihre Liveenergie ins Studio zu übertragen, und das, obwohl Gitarrengott-Produzent Tom Verlaine im Studio an den Knöpfen drehte. Die Band war jahrelang auf Tour, eine Saison lang auch in großen Venues mit REM, aber trotz harter Arbeit blieben die erhofften ganz großen Erfolge aus.
Als sich True West – frustriert und mit unterschiedlichen Plänen – 1985 auflösten, entschied sich Russ dafür, den ungewissen, aber potenziell befriedigenden Weg einer Solokarriere einzuschlagen. Unabhängig davon, dass er bis dahin kaum als Sänger in Erscheinung getreten war. Es störte ihn nicht, dass die Karten neu gemischt wurden und er sich neu erfinden und etablieren musste – ohne den Deckmantel einer Band, der zugleich Schutz wie auch Ballast gewesen war. Jetzt saß er am Steuer und nahm es in die Hand.
Nachdem sich das vulkanische Gas und Magma der True West-Trennung ausgebreitet hatten, ließ Russ seine Wurzeln im Norden Kaliforniens hinter sich und zog in den sonnigen Süden des Westküsten-Staates. 1986 veröffentlichte er sein Solodebüt Totem Poles And Glory Holes und tourte ausgiebig mit seinen neuen Gefährten, den Totem Polemen, in denen sich im Laufe der Zeit Gitarrist Jon Klages (Richard Lloyd Band, Individuals), Multi-Instrumentalist Robert Lloyd (Steve Wynn, Victoria Williams, John Wesley Harding) und Dave Provost (Dream Syndicate, Davie Allen & The Arrows) wiederfanden. Tolman widmete seiner neuen Heimat zwei weitere Alben, Down In Earthquake Town und Goodbye Joe, und verabschiedete sich mit Verve von den 90ern. Dies waren die ersten von insgesamt vier Alben, die in Zusammenarbeit mit dem Produzenten und Toningenieur Brett Gurewitz entstanden, Gründer der legendären Punkband Black Religion und Kopf des Punklabels Epitaph Records.
Diese Alben tragen allesamt das Siegel Tolmans: erwachsener, gebildeter Rock, zu dem eine bewegte Vergangenheit ebenso gehören wie schneidende Gitarren und wahrhaftige, reduzierte, auf den Punkt gebrachte Texte. Ein Sound und eine Stimme aus dem Abseits, nicht müde, aber weise, mit Geschichten, die es sich zu erzählen lohnt. In dem halben Jahrzehnt nach dem Dahinscheiden von True West baute Russ einen Turm voller Songs, dem allerdings die verdiente Aufmerksamkeit eines größeren Publikums versagt blieb.
Davon verwundert, dass seine Musik in keine der begrenzten Marketing-Kategorien der USA zu passen schien, begann Russ eine Expedition voller Wanderlust. Er zog nach Europa und lernte deutsche Autobahnen, das ländliche Dänemark, gewundene Autopistas in Spanien und enge italienische Landstraßen kennen. 1992 und 1994 veröffentlichte er Road Movie und Sweet Spot. Zustimmung und Erfolg – wenn auch hart erarbeitet und im Kleinformat – flossen in Europa weniger zähflüssig als in den USA. Ungebeugt macht Tolman weiter, hinterlässt subversive musikalische Krumen hier und da, schlägt sich Richtung Hauptstraße durch und kommt ihr millimeterweise näher. Die Leute hören zu.
1997 fand Russ ein neues Zuhause in San Francisco und ein neues Album, City Lights, das von seinem langjährigen Kumpel Steve Wynn produziert und dem viel beschäftigten Chris von Sneidern aufgenommen wurde. Auf dem erfrischenden Soulfeeling von Sweet Spot aufbauend, erinnerten diese Songs an die funkensprühenden Aufnahmen, die einem gewissen kauzigen Iren einst in der Bay Area gelungen waren. Russ konzentrierte sich auf diese Wellenlänge, setzte seinen neuen Pflock in dieser ungewohnten Umgebung und ging hinaus, mit hochgeschlagenem Kragen, in die kühle Nacht, ins Pub und zum Tanzen im City Light.
Um die Jahrhundertwende nahm Tolman New Quadraphonic Highway auf und verwandelte sich dabei in einen Space Cowboy mit Banjo, Synthesizer-Experimenten, Pedal Steel und Saxofon. Das war kein Abschweifen, sondern ein Kurswechsel, eine Wette mit dem Universum, die den Hörer dazu zwingt, wahrzunehmen, was für ein Schatz dieses Album ist. Auch John Wesley Harding, Chuck Prophet, Tom Heyman und Dale Duncan von Map of Wyoming und Flying Color sind an diesem Album beteiligt.
Nach einer Pause, „um meinen inneren Erwachsenen zu finden“, kehrten Russ und seine Frau Kim zurück nach Los Angeles, wo er die Russ Tolman Band gründete mit Kirk Swan (Gitarre), Dave Drewry (Drums), Robert Lloyd (Orgel), Dave Provost (Bass) und Neuzugang Carl Byron (Piano). Die runderneuerte Russ Tolman Band nahm 2013 die Digital-Single „Los Angeles“ auf. Die Rückkehr in die Stadt der Engel beflügelte Tolmans Kreativität und führte dazu, dass er sich ihr wieder komplett widmete. 2016 veröffentlichte er die Digital-Singles „Time Flies“, „Everybody’s Gonna Love Me“ und „Vancouver Sun“. Im Jahr darauf veröffentlichte er die 20 Songs und 27 Jahre umfassende Retrospektive Compass And Map, die die Essenz der Jahre 1986 bis 2013 inklusive der besten Digital-Singles bietet. Inmitten der geschmackvollen Hooks und einzigartigen Vision von Russ Tolmans besten Stücken möchte der Hörer, dass die Nacht nie zu Ende geht.
Im Jahr 2018 begab sich Russ Tolman zu einem überraschenden Sabbatjahr nach Osaka in Japan, wo er das Essen, die Kultur und neue Abenteuer erlebte. Frisch inspiriert beendete er dort seinen „Liebesbrief an Los Angeles“, das Album Goodbye El Dorado. Es ist eine reichhaltige, bunte Sammlung mit Songs über Beichtgeständnisse, intelligente Erwiderungen und Beobachtungen des menschlichen Herzens – knackig rübergebracht mit der Hilfe der üblichen Verdächtigen. Multi-Instrumentalist Robert Lloyd spielt zärtliche Mandoline, liebkost die Tasten oder spendet mit seinem Akkordeon wohlige Wärme und fügt Tolmans Melodien kräftige, frische Farben hinzu. Der langjährige Gitarrenkumpel Kirk Swan (Dumptruck, Amy Rigby, Steve Wynn) bringt Groove und Unbekümmertheit ein und treibt die Musik mit Geschmack und Wucht voran. Kevin Jarvis verdingt sich als Drummer und Engineer und bereichert die Aufnahmen mit seiner in der Zusammenarbeit mit Lucinda Williams, Grant Lee Phillips und Brian Wilson gewonnenen Erfahrung. Cindy Wasserman (John Doe Band, Dead Rock West) steuert elegante Backing Vocals bei, während Dave Provost mit seinem Motown-geschulten Bass für Bodenhaftung sorgt. Tom Heyman veredelt das Ganze mit Pedal Steel-Schimmer. Newcomer Slim Zwerling fügt mit Trompete und Flügelhorn geschmackvolle Burt-Bacharach-Momente zu Tolmans beseelter Mixtur hinzu. Dazu noch Tolmans Seidenhonig-Stimme, und das Ergebnis schimmert in goldenem Glanz.
Der Begriff „Comeback“ ist unangebracht, das Beste kommt erst noch. Das ist Russ Tolmans Aussage und daran gibt’s nix zu Rütteln.
Die erste Auflage des Albums enthält die Bonus-CD Compass & Map, eine 20-Song-Retrospektive aus Russ Tolmans sieben Soloalben, die die Jahre 1986 bis 2013 umspannen.